WAS BLEIBT, WENN VINCE GEHT? | Vince McMahon Doku-Serie (4/4)

Vince McMahon ist der Godfather of Sports Entertainment. Als skrupelloser Workaholic baute er sein Imperium auf, bescherte dem Wrestling ein goldenes Zeitalter. In heutiger Zeit führt er die WWE mit harter Hand in immer niedrigere Ratings und zerstört durch sein Festhalten am Thron womöglich sein eigenes Lebenswerk. Im letzten Teil unserer Doku-Serie stellen wir uns die Frage nach dem Vermächtnis von Vince McMahon. Wo stünden wir ohne ihn? Was bleibt von Vince am Ende übrig?

Cody Rhodes: „Leute, lasst mich euch fragen: Wenn nicht wir, wer sonst? Und wenn nicht jetzt, wann dann? Leute, das fühlt sich verdammt wie eine Revolution an!“

All Elite Wrestling heißt die wohl letzte große Herausforderung, der sich Vince McMahon in seiner Karriere stellen muss. AEW steht für die bessere WWE, für eine Wrestling-Promotion im 21. Jahrhundert, die all das besser machen will, was Vince in den vielen konkurrenzlosen Jahren hat schleifen lassen. Unverbrauchte Indy-Talente, die den Markt seit vielen Jahren aufgemischt und immer mehr in den Fokus gerückt haben, gespickt mit ehemaligen WWE-Superstars, die im System Vince McMahon nicht mehr überdauern konnten oder auf die alten Tage noch einmal den wohligen Wind der Veränderung spüren wollen. Wrestler, die krankenversichert sind, die frei sprechen dürfen und ihre Chance bekommen. Die in Pandemiezeiten daheim auf anderen Kontinenten bleiben dürfen und voll bezahlt werden. Die dann und wann sogar in anderen oder sogar eigenen Ligen antreten dürfen. Ist das die neue, die heile Wrestling-Welt?

Sicherlich ist nicht alles Gold, was glänzt bei AEW, aber jedem fällt auf, wie anders Tony Khan die Geschäfte leitet. Wie viel menschlicher er mit seinen Angestellten umgeht. Der Präsident von AEW zieht mit Milde und Güte in den Krieg mit Vince McMahon, wo dieser nur das Recht des Stärkeren kennt. Tony Khan walzt nicht alles platt, was sich ihm in den Weg stellt. Tony Khan lässt das Wrestling selbst eine neue Landschaft erschaffen. Er setzt nur das fort, was sich seit vielen Jahren abseits der WWE-Scheinwelt rund um den Globus entwickelt hat.

Die Fans ziehen mit. Währenddessen scheint Vince McMahon in seiner Burg in Stamford kaum noch auf sein eigenes WWE-Universum zu hören. Der junge Vince würde spätestens jetzt die Zeit für einen Umbruch gekommen sehen, so wie der junge Vince vor vielen, vielen Jahren aus voller Überzeugung für den nötigen Umbruch gesorgt hat. Jetzt wie damals ist es an der Zeit für das Brechen mit der Tradition. Aber Vince McMahon scheint mit seinen über 75 Jahren nicht mehr bereit zu sein für neue Wege. Er ist nicht mehr hungrig. An sich wäre es jetzt an der Zeit zu gehen. Oder tun wir ihm damit Unrecht?

Vince McMahon kurz vor Wrestlemania 36. Weil sich der dreifache Superbowl-Sieger Rob Gronkowski nicht traut, kommt Vince ihm zu Hilfe und macht ihm mal eben den Sprung aus drei Metern auf die Matte vor. Das war schon immer seine Philosophie. Er verlangt seinen Wrestlern nichts ab, was er nicht selbst machen würde. Hinter den Kulissen kann McMahon fürsorglich sein, gibt Tipps und macht Mut, vergießt hier und da sogar ein paar Tränen. Natürlich kann er kurze Zeit später wieder den knallharten Businessman heraushängen lassen, aber wer führt schon ein börsennotiertes Unternehmen nahe am Milliardenumsatz ohne ein knallharter Businessman zu sein?

Vince McMahon: „Ganz ehrlich: Wenn wir mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, ganz egal ob gut oder schlecht, erhöhen sich unsere Zuschauerzahlen. Also sind viele der negativen Schlagzeilen, die wir zustande bringen, für mich in Ordnung.“

Im Showgeschäft gehen Geld und Zuschauer Hand in Hand. Werden die Fans unterhalten, kommt das Geld. Aber das Geld muss da sein, um die Fans unterhalten zu können. Das hat Vince McMahon natürlich von Anfang an verstanden und so müssen auch wir ganz klar trennen zwischen dem bedingungslosen WWE-Chairman, um den es bislang hauptsächlich ging, und dem Wrestling-Fan, der er nun einmal sein Leben lang geblieben ist. Nur eben in seiner Wrestling-Welt, die er wie folgt versteht:

„Wir haben den Begriff „Sports Entertainment“ geprägt. Die Leute lieben uns, weil wir eine Flucht vor dem Stress des Alltags bieten. Sie lassen sich von der Action und vom Humor mitreißen und sind im Drama eingefangen wie in einer Seifenoper oder einer Reality-Show.“ – Vince McMahon

Das hat Jahrzehnte wunderbar funktioniert. 2017 ernannte das Forbes-Magazin WrestleMania zur sechstwertvollsten Sportveranstaltung der Welt, nur übertroffen von unschlagbaren Events wie den Olympischen Spielen oder der Fußball-WM. Das ist ein Verdienst von vielen, aber vor allem von Vince McMahon selbst. Er machte Wrestling zu dem Spektakel, mit dem viele von uns aufgewachsen sind. Manche würden behaupten, ohne Vince McMahon wäre auch die WCW nicht so groß herausgekommen. Wrestling hätte ohne Zweifel irgendwann seinen Weg in unsere Fernseher gefunden, aber womöglich weiterhin als gestellte Kämpfe ohne viel Drumherum. Heutzutage wäre Wrestling aber sicherlich auch ohne Vince McMahon zur großen Show geworden, was ihn rückblickend umso mehr zum Vorreiter ganzer Generationen macht.

Seit dem „Wilden Westen“, wie Vince die damalige Zeit der Territorien nannte, ist viel passiert. Aus der anarchischen Starke-Männer-Welt wurde ein finanzstarker Markt, in dem Vince McMahon nun schon seit über einem halben Jahrhundert besteht. In einer Zeit ohne Fans in der Halle erschuf er mit Drew McIntyre einen Star, der die WWE in eine neue Zeit führen kann. Wenn jetzt aber die Einschaltquoten der Shows immer mehr sinken, wann hätte Vince denn aufhören sollen?

Da Mack: „Ich glaub, um ehrlich zu sein, alles hat ein Verfallsdatum, vielleicht auch der kreative Output eines Vince McMahons. Ich glaub, in jeder Firma ist irgendwann mal ein Philosophiewechsel, beziehungsweise ein Chefwechsel angesagt, damit man immer up-to-date bleiben kann, am Zahn der Zeit bleiben kann und weiter wachsen kann. Daher denke ich, dass es sicherlich nicht verkehrt gewesen wäre, hätte sich Vince McMahon aus dem aktiven Geschäft etwas mehr zurückgezogen, vielleicht nicht ganz, aber zumindest anderen mehr Spielwiese gelassen, um ihren kreativen Output einzubringen, um das Produkt zu verbessern. Und wer weiß, wo wir jetzt da mit WWE stehen würden. Vielleicht hätte man es sogar erreicht, dass man heute immer noch fantastische Quoten hätte und mit eine der Main-Shows überhaupt wäre.“

Klar ist, dass es hakt im Getriebe der WWE. Zu viele Shows, zu viele Gürtel, zu viele Storylines, die von jetzt auf gleich fallengelassen werden. Dinge wiederholen sich immer und immer wieder und am Ende kommen ja doch wieder die Stars von damals zurück in die Shows. Aber ist das ein Fehler von Vince McMahon? Die Einschaltquoten verlangen nach einem neuen Weg, die Hardcore-Fans kommen aus dem Beschweren nicht mehr hinaus. Aber Vince zieht immer noch die Kinder in die Hallen, verkauft ohne Ende Merchandise und hält die WWE auf solider Fahrt. Seine WWE verzeichnet Quartal für Quartal Gewinne im hohen zweistelligen Millionenbereich, die WWE-Aktie erholt sich wieder und dem Unternehmen wird bis 2024 ein Umsatzzuwachs von bis zu 400 Millionen Dollar auf dann 1,35 Milliarden vorhergesagt. NXT hingegen, das für viele beste oder sogar einzige richtig gute WWE-Produkt, fährt von Beginn an Verluste ein und kommt erst jetzt mit dem TV-Deal mehr in Schwung. Mit NXT hat Vince nichts zu tun, schaut sich aber manchmal ein Takeover-Event an.

Es fällt nur allzu leicht, Vince McMahon selber gemäß seiner prominenten Wrestling-Figur Mr. McMahon als einen Heel anzusehen, als den Bösewicht dieser Geschichte. Als Mr. McMahon war er auf einmal selbst in den Storys involviert, trat als machtbesessener Boss auf, der egoistisch über Leichen geht. Das ist der Vince McMahon, den wir seit Jahrzehnten zu Gesicht bekommen, den wir schon reflexartig hassen.

„Die Leute verwechseln Mr. McMahon und Vince McMahon. Es ist viel einfacher, über Mr. McMahon zu schimpfen und ihn herunterzumachen als den Menschen Vince McMahon dahinter zu verstehen. Hat er Fehler? Zur Hölle ja. Und du auch und ich auch und so auch die nächste Person, der du begegnest. Aber das ist einfach die Art, wie wir alle gebaut wurden.“ – Jim Ross

Wenn man Vince McMahon richtig verstehe, so sagte es Vince 1998 in einem Interview, dann werde er selbst besser durch seinen Kayfabe-Widersacher Stone Cold Steve Austin als durch den Mr.-Mc-Mahon-Charakter repräsentiert. Und je mehr man sich in den Kopf von Vince McMahon hineindenkt, trotz all seiner furchtbaren Handlungen und Entscheidungen, finden wir auch eine Menge Gutes, das über den bereits bekannten liebevollen Familienmenschen hinausgeht. Wir vergessen, was für ein guter Wrestler Vince McMahon war und im Grunde immer noch ist. Viele seiner prominenten Matches waren gut bis sehr gut und wurden zu Grundpfeilern in der WWE-Geschichte. Mr. McMahon wurde von allen gehasst und bis heute bekommen seine Einzüge die größten Jubelrufe des Abends. Technisch konnte er natürlich nicht mithalten, aber ein Athlet war er und konnte wie kaum einer sonst im Ring Geschichten erzählen. Vince McMahon war ein guter Wrestler.

Großzügige Empathie

Vince ist erstaunlich nachgiebig zu seinen ehemaligen Feinden, konnte sich mit Bruno Sammartino, dem Ultimate Warrior, Eric Bischoff, Jeff Jarrett oder Bret Hart versöhnen, brachte schließlich sogar Sting in die WWE-Shows. Sicherlich schwingt da auch wieder viel Business mit, aber auch erstaunlich viel nicht geglaubte Empathie. Ric Flair hatte phasenweise 800.000 Dollar Schulden bei Vince, weil dieser der Legende wie selbstverständlich und ohne Machtgehabe in schwierigen Zeiten unter die Arme griff. 2010 ließ er Michael Cole sogar live bei Raw aus alter Verbundenheit das neue Buch von Mick Foley präsentieren, obwohl dieser zu der Zeit bei der Konkurrenz TNA unterwegs war. Nach dem jeweiligen Tod ihrer Männer half er Dana Warrior und Vickie Guerrero mit einem Job aus, schloss mit Darren Drozdov nach dessen Querschnittslähmung einen Vertrag bis zum Lebensende ab. Kurt Angle hatte 2006 erhebliche körperliche Probleme und seine Alkohol- und Schmerzmittelsucht lief außer Kontrolle. Als Angle Vinces Angebot zu einer von der WWE bezahlten Therapie ablehnte, entließ McMahon eines seiner größten Zugpferde, damit sich dieser nicht noch mehr selbst schaden konnte.

Generell lässt sich der Umgang mit Sucht und Abhängigkeit zu den größten Verdiensten von Vince McMahon zählen. 2007 sickerte ein Brief an ehemalige WWE-Wrestler durch:

„In den letzten zehn Jahren ist eine übermäßig große Zahl an Wrestlern von uns gegangen. Einige der Tode lassen sich zum Teil auf Drogen und Alkohol zurückführen. Um solche Tragödien in Zukunft zu vermeiden, ist die WWE bereit, jedem Performer mit einem früheren WWE-Vertrag eine Drogen- oder Alkoholtherapie […] zu bezahlen. Die WWE wird diesen Service vollständig übernehmen. Es entstehen keine Kosten für Sie oder Ihre Familie. Die Hilfe wird unabhängig von den Umständen Ihres Weggangs aus der WWE oder der Zeit, die Sie hier performt haben, bereitgestellt.“

Diese Großzügigkeit ermöglichte prominenten Wrestlern wie Jeff Jarrett, Maven, Ron Simmons oder Scott Hall Freiheit aus ihren persönlichen Sümpfen.

Vince McMahon: „Ich werde vermutlich niemals sterben. Ich werde immer irgendwie da sein. Zumindest sind das meine Pläne.“

Und damit nähert sich diese Doku-Serie ihrem Ende. Jeder von uns spürt das Vermächtnis von Vince McMahon Woche für Woche erneut, denn ein Abschalten für immer gelingt nur den wenigsten Fans. Die WWE mit ihrem vorhandenen Schatten bringt Freude in unser Leben und sei es auch nur die Freude am darüber Beschweren. Sollte Vince eines Tages abtreten, dann bekommt der potentielle Kronerbe Triple H ein profitables Unternehmen mit enormen Zukunftschancen auf dem Silbertablett präsentiert. Es ist doch alles da. Die WWE hat großartige Talente, die Frauen starten gerade erst richtig durch, die ganze Produktion ist außerordentlich, angefangen mit den Editoren, die für ihre weltklasse Video-Arbeit kaum gelobt werden. Was fehlt, ist die Leidenschaft oder besser die Vision des Promoters. Vince McMahon erscheint heute als Bremse im Getriebe, aber er hat dieses Getriebe aufgebaut. Er ist der Godfather of Sports Entertainment.

Produktion: Marcel Weber & Jonathan Guthy

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